STERN: Fünf Wochen an Bord eines Rettungsschiffs
Beim Versuch, auf der Flucht das Mittelmeer zu überqueren, sterben jährlich Tausende Menschen. Private Organisationen auf See retten manchen das Leben. Das ganze Ausmaß des politischen Versagens können sie jedoch unmöglich auffangen. Eine ganz persönliche Bilanz nach fünf Wochen auf der „Humanity 1“
von Sina Horsthemke
Während ich auf der Brücke der „Humanity 1“ diese Zeilen schreibe, kämpft sich das Schiff Richtung Westen. Nicht schnell wegen des Gegenwinds, aber mit einer gewissen Sturheit, wenn ich das so sagen darf. Die Wogen des Mittelmeers, heute tiefblau, tragen schäumende Gischt. Vor vier Wochen hätte mich das seekrank gemacht, doch mein Körper hat sich an das Schwanken gewöhnt. Zwei Meter Wellenhöhe trägt der Kapitän ins Logbuch ein, dann beendet er seine Schicht und übergibt für die nächsten Stunden an den zweiten Offizier.
Seit fünf Tagen sind wir auf dem Rückweg – vom italienischen Bari, wo die 261 Geretteten von Bord gehen durften, ins spanische Burriana, wo die „Humanity 1“ in die Werft muss. Das ehemalige Forschungsschiff, das früher „Poseidon“ hieß, ist nicht mehr im Auftrag der Wissenschaft unterwegs. Es fährt nun im Auftrag der Menschlichkeit: Die Berliner Seenotrettungsorganisation „SOS Humanity“ betreibt das 61 Meter lange Schiff seit August 2022, um Geflüchtete im Mittelmeer vor dem Ertrinken zu retten.
Ohne Telefon, ohne Privatsphäre, ohne Landgang
Vor fast fünf Wochen, Mitte November, bin ich mit 28 anderen in Burriana an Bord gegangen. Ich als Journalistin, andere als Köchin, Übersetzer, Matrosin, Ingenieur, Kapitän oder Krankenschwester. Wir kannten uns nicht. Wir stammen aus verschiedenen Ländern, sind unterschiedlich alt, haben andere Vergangenheiten. Manche fahren seit Jahren zur See, andere waren nie zuvor auf einem Schiff. Verbunden hat uns anfangs nur eins: das gemeinsame Ziel, Geflüchteten das Leben zu retten. Wochenlang mit 28 Fremden auf einem Schiff zu sein, ohne die Möglichkeit zu telefonieren, ohne Privatsphäre, ohne festen Boden unter den Füßen – damals war meine größte Sorge, das nicht auszuhalten. Angesichts dessen, was wir erlebt, gesehen und gehört haben, kommt es mir heute lächerlich vor.
Schwer auszuhalten sind andere Dinge: dass eine durch Spenden finanzierte Seenotrettung überhaupt nötig ist. Dass Politikerinnen und Politiker das Sterben im Mittelmeer hinnehmen. Dass sie wegschauen, wenn wieder einmal ein Schlauchboot kentert. Und dass sie jenen noch Geld in die Taschen stopfen, die im Auftrag der „Grenzsicherung“ das Leid der Fliehenden verschlimmern und gegen Menschen- und Völkerrecht verstoßen.
In den vergangenen Wochen sind die 28 Fremden und ich zu einer Crew zusammengewachsen. Wir haben uns an das Leben an Bord gewöhnt, zuerst im Hafen, dann auf See. Wir haben als Team den Einsatz geprobt: Schnellboot-Manöver geübt, Erste-Hilfe-Kenntnisse aufgefrischt, uns gegenseitig von einem Schlauchboot geborgen. Wir wissen nun, wie man ein Funkgerät bedient, wo an Bord die Feuerlöscher sind und was zu tun ist, wenn jemand zusammenbricht. Wir waren zusammen seekrank, haben gemeinsam gelacht und geweint. Und wir haben gerettet: das Leben von 261 Menschen, darunter Babys und Kleinkinder, Frauen und Männer, Teenager, Geschwister, Familien. Das wäre eigentlich nicht unsere Aufgabe gewesen. Doch ohne uns wären diese Menschen ertrunken oder zurück nach Libyen verschleppt worden – das Land, an dessen Küste sie abgelegt haben in ihren seeuntauglichen Booten. Das Land, das sie auf ihrer Flucht nur durchqueren wollten, das dann aber zur Hölle ihres Lebens wurde.
Der Horror aus Libyen
Ich habe in den Wochen auf der „Humanity 1“ viel über Schiffe gelernt. Und über Libyen. Ich habe verstanden, was „Backbord 20 Grad“ bedeutet und dass man bei Seekrankheit am besten den Horizont anschaut. Was in Libyen passiert, ist dagegen kaum zu begreifen. Habib* aus dem westafrikanischen Guinea zum Beispiel hat es mir erzählt. Wir haben den 26-Jährigen mit 102 anderen aus einem Schlauchboot gerettet, das bereits Luft verloren hatte, mitten auf dem Meer. Niemand der Insassen trug eine Schwimmweste, nicht einmal die Kleinkinder. Niemals hätten Treibstoff und Trinkwasser bis nach Europa gereicht.
Es war Habibs fünfter Versuch, das Mittelmeer zu überqueren. Viermal hatte die sogenannte libysche Küstenwache das Boot, in das er eingestiegen war, abgefangen und die Fliehenden zurück nach Libyen gebracht. Wer bei solch einem illegalen Pullback ins Wasser falle, werde zum Sterben zurückgelassen, sagt Habib, das habe er selbst gesehen: „Die Libyer geben vor, uns zu retten. Aber mit einer Rettung hat das nichts zu tun, darum geht es ihnen nicht.“
Fängt die libysche „Küstenwache“ Geflüchtete ab, schleppt sie die Menschen nicht nur zurück in das zerrüttete Land. Männer wie Frauen landen wie Verbrecher in einer der vielen Haftanstalten und werden teils jahrelang festgehalten. Habib berichtet mir von Folter und Schlägen, von Freunden, die in diesen Lagern verhungert sind. Er ist nicht der einzige. In der Bordklinik der „Humanity 1“ bezeugen Narben, Brandmale, Augenverletzungen und schlecht verheilte Knochenbrüche, was die Geretteten aus Libyen erzählen.
Arbeitssklaven ohne Lohn
Wer keine Folterspuren trägt, hat Glück gehabt, könnte man meinen. Doch das muss für jene, die Libyen durchquert haben, nichts heißen. Amun* scheint körperlich unversehrt. Wie es dem Ägypter seelisch geht, kann ich nur ahnen. Auch er habe einige Jahre Libyen hinter sich, erzählt er mir – als Arbeitssklave. „Wie eine Tomate“ hätte man ihn verkauft und zum Arbeiten gezwungen, auf einer Baustelle etwa. Lohn gab es nie. Erst, als seine Familie ihr Haus verkauft habe, hätte er sich mit dem Geld freikaufen und die Fahrt übers Mittelmeer bezahlen können.
Diese Fluchtroute, eine der gefährlichsten der Welt, ist für viele der einzige Ausweg. Denn selbst, wenn sie sich angesichts der Zustände in Libyen zur Umkehr entscheiden, bleibt der Rückweg in die Heimat versperrt. „Sie lassen uns nicht zurück“, erzählt mir Amun. „Wer Libyen erreicht hat, endet entweder als Sklave oder im Gefängnis. Oder er ertrinkt im Meer.“ Die Chance, die Überfahrt zu überleben, sei klein. Aber oft die einzige auf ein Leben in Freiheit.
Die Crew und ich haben Geflüchtete von vier Booten gerettet. Jedes Mal waren Schiffe mit libyscher Flagge zugegen. Sie umkreisten unsere Schnellboote, einmal forderten uns die teils maskierten Männer während einer Rettung zum Rückzug auf – in internationalen Gewässern, im Unrecht. Als wir sie ignorierten, zeigten sie uns ein Maschinengewehr.
700 Millionen Euro aus Europa – für libysche Milizen
Ich bin keine Politikexpertin, daher kann ich es mir nur so erklären: Offenbar weiß niemand, was in Libyen passiert und wie die Libyer auf See agieren. Wieso sonst beauftragt die Europäische Union (EU) das Land weiter mit dem „Schutz“ ihrer Grenzen? Wieso sonst hat Europa seit 2015 zur „Unterstützung“ Libyens 700 Millionen Euro bereitgestellt, für Schiffe, Waffen und Milizen? Wieso sonst hat die Bundeswehr die libysche „Küstenwache“ jahrelang mit ausgebildet? Wieso sonst ist das von der EU geförderte Italien-Libyen-Memorandum gerade um drei Jahre verlängert worden? Wissen jene, die solch ein Papier unterzeichnen, wirklich, was in Libyen geschieht? Und falls ja: Wie können sie mit diesem Wissen leben?
Die Libyer hätten aufgerüstet, berichteten mir Crewmitglieder, die schon öfter auf See im Einsatz waren. Sie hätten heute mehr Schiffe als vor einigen Jahren, schnellere Schiffe. Bezahlt von europäischem Geld. Dass eines dieser Schiffe, „Sabratah“, schneller ist als die „Humanity 1“, wurde bei unserem Einsatz mehr als 40 Geflüchteten zum Verhängnis. Sie gerieten – außerhalb libyscher Hoheitsgewässer – in einem seeuntauglichen Schlauchboot in Seenot, die Retter aus Deutschland keine zwei Meilen entfernt. Doch „Sabratah“ war vor uns da.
Per Funk wiesen die Libyer die Humanity-Crew an, sich nicht einzumischen und den Schauplatz zu verlassen. Dann zwangen sie die Geflüchteten, darunter mehrere Kinder, auf ihr Schiff, um sie zurück nach Libyen zu bringen. Ein illegaler Pullback im Mittelmeer, finanziert von der EU. Ihn nicht haben verhindern zu können schmerzt. Immerhin sechs Männer konnten wir retten, weil sie ins Wasser fielen oder vor Verzweiflung sprangen. Einer sagte uns später, er wäre lieber ertrunken, statt zurück nach Libyen gebracht zu werden.
Das Mittelmeer ist voller Leichen
Ertrinken ist ein stiller Tod. Ertrinkende schreien und strampeln nicht wie im Film. Atmet ein Mensch Wasser ein, verkrampft zunächst die Stimmritze im Kehlkopf – ein Schutzreflex des Körpers, um die Lunge vor Flüssigkeit zu schützen. Atmen und Schreien wird unmöglich. Wer ertrinkt, erstickt. Seit 2014 sind mehr als 25.000 Menschen still im Mittelmeer ertrunken, die Dunkelziffer liegt höher. Es waren Menschen, die vor Folter, Gewalt oder Hunger geflohen sind und sich in Europa ein besseres Leben erhofft haben. Das Meer, in dem wir im Sommerurlaub so gern baden, ist voller Leichen.
Mich haben die Wochen auf der „Humanity 1“ wütend gemacht. Wütend auf Giorgia Meloni. Kann Italiens neue Ministerpräsidentin mit ihrer kleinen Tochter Weihnachten feiern, ohne an ertrinkende Kinder zu denken? Wütend auf europäische Politiker, die seit Jahren über die Verteilung von Geflüchteten streiten, an einer staatlich organisierten Seenotrettung scheitern und stattdessen die Verstöße der Libyer gegen humanitäres Völkerrecht finanzieren. Wütend auch auf alle, die angesichts überfüllter Schlauchboote nur mit den Schultern zucken. Wären sie genauso gleichgültig, wenn Familien weißer Hautfarbe vor Europas Stränden ertränken?
Sobald wir Spanien erreicht haben, muss die „Humanity 1“ für mehrere Wochen in die Werft. Es fällt mir schwer, nicht an jene zu denken, denen die Seenotretter dann nicht helfen können.
*Namen von der Redaktion geändert